Sie leben in ihrer eigenen, geheimnisvollen Welt. Menschen, die an Demenz erkrankt sind, nehmen die Wirklichkeit anders wahr als du und ich. Folglich zeigen sie oft unerwartete Verhaltensweisen, auf die unsere Gesellschaft mit Unverständnis, Ablehnung oder Spott reagiert.
Was aber führt in die Demenz und – noch wichtiger – kann sie aufgehalten oder sogar verhindert werden? Neueste neurobiologische Erkenntnisse machen hier Mut.
Lange Jahre richtete die Forschung ihr Hauptaugenmerk auf die Abbauprozesse im Hirn, die als Auslöser der Demenz gelten. Übersehen wurden die Wiederaufbaufähigkeiten unserer Nervenbahnen, die bis ins hohe Alter erhalten bleiben. Intensive Aktivität des Menschen, Begeisterung und Lebensfreude gelten dabei als Baustoff, mit dem aus schmalen Nebenwegen neue Verbindungsautobahnen entstehen, auf denen unser geistiges Leistungsvermögen wieder Fahrt aufnimmt.
Wie aber kann dieser Wiederaufbau gelingen?
Das Ziel: Eine sinnhafte, verstehbare, gestaltbare Welt
Als Fundament gilt eine Welt, die wir als sinnhaft, verstehbar und gestaltbar wahrnehmen; die Wissenschaft spricht hier von Kohärenz. Das Gefühl, nicht zu begreifen, was um uns herum geschieht, verwirrt. Wo wir den Sinn nicht sehen, erlahmt unser Antrieb. Und eine Lebenswirklichkeit, die sich uns als ausschließlich und alternativlos darstellt, deprimiert.
Was aber geschähe, wenn dieses Gefühl der Kohärenz wiedererweckt werden könnte? Ließen sich so Desorientierung, Antriebslosigkeit und Depressionen - typische Symptome der Demenz – wirksam aufhalten oder gar verhindern?
Dies zumindest legt eine lang angelegte Studie in einem Nonnenkloster in den USA nahe. Kaum eine der dort lebenden Ordensschwestern entwickelte im Alter Demenz. Und doch zeigten die Untersuchungen bei den verstorbenen Frauen die gleichen Abbauerscheinungen des Gehirns, wie sie bei demenziell erkrankten Menschen bekannt sind.
Nach der Kohärenztheorie wäre dies dem Umstand zu verdanken, dass diese Nonnen in ihrem starken Glauben mit dem sicheren Gefühl leben, zu wissen, was sie tun, dass dieses Tun für sie sinnvoll ist und, dass sie damit Einfluss nehmen auf das Geschehen in ihrem Umfeld und darüber hinaus.
Grundbedürfnisse anerkennen und erfüllen
Wie aber ist dieses Gefühl in einem Menschen zu wecken, den ich über den Verstand nicht erreiche? Schlüssel in diese Welt sind Gefühle und körperlicher Kontakt. Jeder Mensch hat ein angeborenes Grundbedürfnis nach Verbundenheit, Anerkennung und Autonomie - auch, wenn er dies nicht mehr ausdrücken kann.
Ein Angehöriger oder Pflegender, der sich dem Erkrankten vorurteilsfrei zuwendet, mit ihm Spaß hat und menschliche Nähe schafft, kann – wenn auch nur für Momente – Teilhabe und Freude schenken - Gefühle, welche so bedeutsam sind zur Aktivierung der Selbstheilungskräfte unserer Nervenbahnen.
Damit wird der Kampf gegen Demenz zur gesamtgesellschaftlichen Herausforderung. Er setzt ein drastisch verändertes Menschenbild voraus, das alten und kranken Menschen ihre Grundbedürfnisse uneingeschränkt zugesteht, statt sie nach vermeintlich allgemeingültigen Erwartungen zu beurteilen. Nur dann hat das Gefühl der Sinnhaftigkeit, des Verstehens und der Gestaltbarkeit wieder eine Chance. Und nur dann werden wir Prognosen, die unserem Land bis 2050 bis zu drei Millionen Demenzkranke voraussagen, die Grundlage entziehen können.